Hans-Ullrich Kuhn

HOINZI

Der IKS

Parsifal

Der Schweiß rinnt mir unerbittlich in den Nacken. Mein klatschnasses Hemd klebt an meiner Brust, das Jackett, das ich mittlerweile ausgezogen habe, aber aufgrund der Platznot nirgends ablegen kann, wärmt mir zusätzlich den Schoß. Ich! Koche! In! Meinem! Eigenen! Saft!

Verstohlen schiele ich auf meine im Dunkeln schwach leuchtende Uhr. Noch zwei Stunden!!!!!!!!!! Zweieinhalb Stunden war ich schon in der Hölle und jetzt soll ich noch zwei weitere Stunden hier ausharren???

Um mich herum herrscht angespannte Stille. Alle Blicke sind andächtig auf die Bühne gerichtet. Die Freude des bisher erlebten und die erwartungsvolle Anspannung auf das, was noch kommen wird, sind mit den Händen zu greifen. Nur ich, ich bin hier völlig falsch. Seit zweieinhalb Stunden sitze – sitze? nein kauere ich – auf einem dieser vermaledeiten Folterhocker. Jeder Melkschemel ist bequemer. Temperatur: knapp unter 40°. Lüftung/Klima? Fehlanzeige.

Die einzigen Lichtblicke sind die beiden je einstündigen Pausen nach dem ersten und dem zweiten Aufzug, die allerdings den Nachteil haben, aus der viereinhalbstündigen Vorstellung sechseinhalb Stunden zu machen. Sechseinhalb Stunden bis zum rettenden Biergarten!!!

Wir befinden uns in Bayreuth im Richard-Wagner-Festspielhaus mitten in einer Parsifal-Vorstellung. Es ist August, der Sommer zeigt sich von seiner besten Seite, Beginn der Vorstellung: 16.00 Uhr. Aktuelle Zeit nach dem ersten Aufzug und der ersten Pause: 19.30 Uhr. Es läuft der zweite Aufzug. Geschätzte Zeit bis zum Ende der Vorstellung: Jahre! Und: on top: Regie: Wolfgang Wagner!!

Bild.de (https://www.bild.de/unterhaltung/kultur/bayreuther-festspiele/was-sie-wissen-muessen-46988932.bild.html) sagt:

Wagner hat für Wagnerianer etwas Religiöses. Besonders der „Parsifal“, die letzte Oper des großen (und ein wenig irren) Richard Wagner (1813–1883).

Worum geht’s? Um die Erlösung der Welt. Nach ausdrücklichem Wunsch des Meisters darf die Oper NUR in Bayreuth aufgeführt werden. Und geklatscht werden darf auch nicht. Wer hier den Parsifal dirigiert, gilt als Hohepriester des grünen Hügels.

Und weiter:

Je ergriffener Dirigenten den „Parsifal“ angehen, desto länger zieht sich die Aufführung hin. Die Uraufführung dauerte (ohne die zwei Pausen à 60 Minuten!) 4:04 Stunden, Arturo Toscanini brauchte in den Dreißigerjahren 4:42 Stunden!

Wir haben´s in 4:25 Stunden geschafft!

Br-klassik.de beschreibt den Komfort im Opernhaus (https://www.br-klassik.de/themen/bayreuther-festspiele/hintergrund/bayreuther-festspiele-knigge-gebrauchsanweisung-insider-tipps-kleidung-toilette-pausen-100.html):

Es wird eng drinnen. Also lassen Sie die Taschen draußen. Im eigenen Interesse: Eine Tasche könnte bereits leichte Luftzüge aufhalten, und Sie werden jeden, wirklich jeden leichten Luftzug wollen. Denn ja, es wird heiß. Sehr heiß. Darum gilt auf allen Plätzen: Ausziehen ist erlaubt, ignorieren Sie die Etikette, weg mit dem Jackett! Wählen Sie leicht ausziehbare Schuhe – aber Vorsicht, sie müssen bequem sein, denn die Füße schwellen während der Vorstellung in der Hitze an. Nicht, dass Sie dann am Ende eines Aufzugs nicht mehr reinkommen in die Schuhe. Und bitte: Wir wissen, dass es ungesund ist, aber bitte, bitte, im Sinne der anderen 1973 Zuschauer: Sparen Sie nicht am Antitranspirant. Dieseln Sie sich richtig ein – Aluminium, ja bitte!

Dem ist nichts, absolut nichts hinzuzufügen!

Rückblende: sechs Monate vorher

Februar 1992. „Hey, wir haben´s mal wieder geschafft!!! Diesmal hat´s nur sieben Jahre gedauert!“ Ich komme vom Briefkasten und winke Ute mit den Eintrittskarten für die diesjährigen Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth zu. Ich schau mir die Karten an. Was ist es denn diesmal? Parsifal. Parsi WAS??? Ich bin ahnungslos wie ein neugeborenes Baby. Und ebenso grundsätzlich positiv gestimmt in freudiger Erwartung auf eine Zukunft, die nur schön sein kann. Mit meiner Ahnungslosigkeit sollte es dann genauso schnell vorbei sein wie mit meinem uneingeschränkt positiven Blick auf die Zukunft.

Bis weit in die 1990er Jahre war es ein Riesenglück, wenn es gelang, Eintrittskarten für die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele zu ergattern. Die Karten konnten nicht einfach gekauft werden. Nein, sie wurden zugeteilt. Im Schnitt betrug die Wartezeit auf Karten zehn Jahre (ich nehme an, Trabbi-Käufern aus der ehemaligen DDR kommt das irgendwie bekannt vor?).

Die Festspiele finden immer im August statt, angeboten wird jeweils eine Auswahl von etwa fünf Wagner-Opern, diese Auswahl ändert sich ab und an. Im September eines Jahres konnten immer die Bestellformulare für das kommende Jahr angefordert werden. Auf diesen Formularen konnten dann die Ticketwünsche angegeben werden, also welche Oper, welche Plätze, Anzahl Tickets usw.. Etwa im Februar/März des nächsten Jahres gab es dann Antwort aus Bayreuth, normalerweise in Form von „leider hat das Kartenkontingent für Sie nicht ausgereicht“.

Nun sind wir zwar keine Opernfans und Wagnerfans sind wir schon dreimal nicht, aber Karten für Bayreuth zu ergattern, war natürlich eine Herausforderung für uns. Schon für das unübertreffliche Gefühl, wenn wir auf einer Party so nebenbei sagen können, ach, im nächsten Monat sind wir übrigens in Bayreuth beim Wagner …… Herrlich – nicht zu übertreffen!!

Also haben wir angefangen, jährlich Karten für Bayreuth zu bestellen. Da wir wussten, dass die Chancen gering waren, haben wir jeweils wahllos mehrere Vorstellungen angekreuzt, also z.B. „15.08. Der fliegende Holländer“, „16.08. Tannhäuser“, „17.08. Die Meistersinger von Nürnberg“. Dabei haben wir immer vier Karten bestellt. Das war keine große Gefahr, denn zum einen war es relativ unwahrscheinlich, dass wir überhaupt Karten bekommen würden und zum anderen: selbst für den praktisch undenkbaren Fall, dass wir für jede der drei bestellten Vorstellungen jeweils die von und bestellten vier Karten bekommen hätten, wäre es kein Problem gewesen, diese Karten (mit Gewinn) weiterzuverkaufen (was zwar verboten war, aber wer würde das schon kontrollieren?). Hinzu kommt: es ist zwar extrem zeitaufwendig, an die Karten zu kommen. Die Kosten für die Karten halten sich aber in Grenzen. Die Karte für den teuersten Platz hat damals 185 DM gekostet.

So ging das jahrelang. Wir bestellten regelmäßig Karten, Bayreuth schickte ebenso regelmäßig Absagen. Bis plötzlich, nach zehn Jahren: Bingo! 1985 Wir bekamen vier Karten für den Fliegenden Holländer! Da hatten wir doppeltes Glück. Nicht nur, dass wir überhaupt Karten bekommen hatten, nein, wir hatten auch noch Karten für den Holländer bekommen. Das kürzeste Wagner-Stück (grad mal 2 ½ Stunden, wer die Bestuhlung in der Oper kennt, kann ermessen, welch Glücksfall das ist) und zudem noch das Wagner-Stück, das sich für Opern-/Wagner-Laien, die wir nun mal sind, am leichtesten erschließt. Um es kurz zu machen: die Vorstellung war toll und eindrucksvoll, das Wetter spielte mit, das Ambiente war genau, wie von uns erwartet und wir haben die ganze Sache sehr genossen.

Nun hatten wir Blut geleckt und haben in den Jahren danach weiterhin immer wieder brav Karten bestellt. Sieben Jahre nach dem Holländer hatten wir wieder Glück. Vier Karten, diesmal für den Parsifal. Hmmmm. Keine Ahnung. Na, wurscht. Der Holländer war ja ganz nett, freuen wir uns mal auf den Parsifal (an dieser Stelle bitte ich alle Opern-/Wagner-Fans ganz, ganz herzlich um Entschuldigung. Ich darf Ihnen versichern, dass ich wirklich kein ganz schlechter Mensch bin).

Wir also nach Bayreuth zum Parsifal.

Hier muss ich nun noch einige Infos zum organisatorischen Ablauf einflechten: die Vorstellung des Parsifal beginnt gegen 16.00 Uhr und endet, mit zwei einstündigen Pausen, gegen 22.30 Uhr. Die Bayreuther Hotels haben sich komplett auf die Festspiele eingestellt und einen Rundum-Service geboten. Etwa 45 Minuten vor Beginn der Vorstellung stand ein Hotelbus bereit, um uns zum Festspielhaus zu fahren. Vorher konnte in der Lobby noch gemütlich ein Sekt getrunken werden. Nach der Vorstellung wurden wir vom Hotelbus wieder abgeholt. Im Restaurant des Hotels konnte bis 2.00 Uhr nachts a la carte bestellt werden. Die Frühstücksbar am nächsten Tag war bis 14.00 Uhr geöffnet. Dazu kommt, dass wir bei unserem ersten Bayreuth-Besuch nach der Holländer-Vorstellung noch einen tollen Biergarten entdeckt hatten. Perfekt.

Nun gut, wir also in den Parsifal rein. Und das war für mich als Opern-Banause der absolute Horror! Die Aufführung dauerte ca. 4,5 Stunden (!), wobei, sehr, sehr dankenswerterweise, zwei Pausen á eine Stunde eingeschoben werden. Kurz zusammengefasst, wie ich die Handlung empfunden habe: da steht 4,5 Stunden lang so´n Typ auf der Bühne und singt sich die Kehle aus dem Leib, um ihn rum in wechselnder Besetzung 30 bis 40 Leute, die gegen ihn ansingen……. Fertig, das war´s. Mehr konnte ich da nicht reininterpretieren.

Egal, auch der längste Parsifal hat mal ein Ende. Wir raus, endlich frei, rein in den Biergarten und endlich Spaß! Gegen 0:30 Uhr kamen wir dann ins Hotel zurück und merkten plötzlich, dass wir noch Hunger hatten. Na, kein Problem, Restaurant hat ja bis 2 Uhr offen. Also, wir rein ins Restaurant und Essen bestellt. Während wir auf das Essen gewartet haben, habe ich die Vorstellung nochmals reflektiert. Ich habe eine relativ laute Stimme:

„Was für eine unausgegorene Scheiße, da steht so ein Typ ohne Sinn und Zweck stundenlang rum und jault sich einen ab. Ich möchte mal wissen, was das soll, das tut sich doch kein normaler Mensch an! Da lass ich mir ja lieber ohne Betäubung zwei Zähne ziehen, bevor ich mir diesen Mist nochmal gebe und und und…..

So habe ich fünf Minuten Dampf abgelassen. Dabei habe ich aus den Augenwinkeln ein älteres Ehepaar gesehen, das an einem Nachbartisch saß und mir immer interessierter zuhörte. Plötzlich stand die Frau auf und kam an unseren Tisch. Sie sprach mich – sehr höflich – an: „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht lauschen, aber ich habe Ihr Gespräch mitgehört. Darf ich Sie fragen, wie Sie an Ihre Karten gekommen sind?“. Ich war zunächst überrascht ob dieser Frage, habe ihr dann aber erklärt, dass wir die ganz normal bestellt und bekommen haben, dass wir jährlich Karten bestellen und diesmal nach sieben Jahren Wartezeit mal wieder Karten bekommen haben.“

„Ich frage nur deshalb, weil mein Mann schon 85 Jahre alt ist. Er ist sehr krank und weiß nicht, wie lange er noch leben wird. Er ist ein ganz großer Wagner-Fan und sein sehnlichster Wunsch war, vor seinem Tod wenigstens einmal eine Wagner-Vorstellung in Bayreuth besuchen zu können; Parsifal war dabei sein absoluter Traum. Wir haben schon fünfzehn Jahre lang Karten bestellt und immer nur Absagen bekommen. Dieses Jahr haben wir uns entschlossen, Karten auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Wir haben für unsere beiden Parsifal-Karten 3.000 DM bezahlen müssen.“

Peng! Damit war ich bedient. Ich absoluter Wagner-Banause bekomme die Karte quasi nachgeschmissen und bashe den Parsifal in Grund und Boden und am Nachbartisch sitzt ein Mann, der seit fünfzehn Jahren sehnsüchtig auf eben solche Karten gewartet hat.

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