Hans-Ullrich Kuhn

HOINZI

 Frühstück in Tokio (1993)


In Tokio sind wir im Stadtteil Shinjuku in einem ganz tollen Hotel im 38. Stock (!) mit einer ganz tollen Aussicht untergebracht; unter anderem liegt der sehr eindrucksvolle Hochhauskomplex der Stadtverwaltung direkt in unserem Blickfeld.

So ein Hotelzimmer im 38. Stock ist natürlich eine ganz tolle Sache. Allerdings hat das auch seine Tücken, die aber erst nach und nach ans Licht kommen. Eine dieser Tücken ist: „Wie komme ich wieder ins Erdgeschoss?“ Nein, falsch: Natürlich nicht, „wie?“, denn das ist ja klar, es gibt Aufzüge. Die Frage ist eher: Wie lange brauche ich, um wieder ins Erdgeschoss zu gelangen? Denn das kann dauern! Obwohl das Hotel vorbildlich mit Aufzügen ausgestattet ist, unter anderem mit Expressaufzügen, die nur in jedem zehnten Stockwerk halten und entsprechend schnell sind, ist es ratsam, genügend Zeit mitzubringen. Unser Negativrekord, um aus unserem Zimmer ins Erdgeschoss zu kommen, lag bei 35 Minuten. Das liegt einfach daran, dass das Hotel sehr gut gebucht war, sodass es zu Stoßzeiten (Frühstück, check-out) die Regel war, dass der Fahrstuhl, so er dann, wenn er in unserem Stockwerk ankam, überhaupt noch Platz hatte, uns mitzunehmen, in jedem Stockwerk bis zu einer Minute hielt, um das Rein und Raus abzuarbeiten.

Wir haben mit Monika, unserer mitreisenden Freundin, vereinbart, dass wir uns am nächsten Morgen um 8.00 Uhr am Aufzug treffen, um zum Frühstücksraum zu fahren; der Frühstücksraum liegt im Erdgeschoss. Nun ist es so, dass Monika zu den liebsten, freundlichsten, angenehmsten, zurückhaltendsten und zuvorkommendsten Menschen gehört, die es auf der ganzen Welt gibt. Wenn, ja wenn Sie Ihre regelmäßige Portion Schokolade bekommt (das ist aber eine andere Geschichte) und …. wenn sie morgens pünktlich, und zwar absolut pünktlich, ihr Frühstück bekommt. Ohne Frühstück ist Monika absolut kiebig und für nichts zu gebrauchen. Ich habe sogar den heimlichen Verdacht, dass sie, sollte sich jemand zwischen sie und ihr heißgeliebtes Frühstück stellen, wenn es hart auf hart käme, diesen Jemand im Zweifel auch umbringen würde.

Wie vereinbart stehen wir alle Drei morgens um 8.00 Uhr vor dem Aufzug. Geplanter Ablauf: Mit dem normalen Aufzug runter bis in den 30. Stock, anschließend Umstieg in den Expressaufzug und damit runter ins Erdgeschoss. Außerhalb der Stoßzeiten: maximal fünf Minuten. Alles klar. Aber, natürlich, 8.00 Uhr, Frühstückszeit, der Wartebereich vor dem Aufzug gefüllt mit Hotelgästen (und das natürlich in jedem Stock). Monika, hungrig bis zum Gehtnichtmehr, entsprechend schlecht gelaunt. Fünf Minuten Wartezeit. Aufzug kommt. Tür geht auf. Keine Chance, voll bis zum Anschlag. So geht es einige Male, bis wir endlich einen Platz ergattern. Dann im 30. Stock raus und rüber zu den Expressaufzügen. Gleiches Spiel. Währenddessen wird Monikas Heißhunger immer größer, sie ist nur noch am Trippeln. Schließlich erreichen wir doch noch das Erdgeschoss. Hey, grad mal 23 Minuten.

Jetzt aber! Wir eilen frohgemut Richtung Frühstücksraum. Monikas Mine hellt sich zusehends auf, Ihre Laune wird besser und besser. Dann stehen wir im Eingang zum Frühstücksraum. Monikas Blick ist schon fest auf das – sehr eindrucksvolle – Buffet gerichtet, im Geist stellt sie sich schon ihr leckeres Essen zusammen. Da wird sie schlagartig aus ihren Träumen gerissen. Denn zwischen dem in greifbarer Nähe liegenden Frühstückparadies und uns gilt es noch, eine Sperre zu überwinden. Diese Sperre hat die Gestalt eines Stehpultes, an dem eine Hotelmitarbeiterin vor einem Computerbildschirm steht und uns freundlich um unseren Frühstück-Voucher bittet. Denn, kein Voucher, kein Frühstück, da gibt es keine Diskussion! Während wir unseren Voucher zücken und abgeben, wird Monika blass: „Ich habe meinen Voucher im Hotelzimmer vergessen……“

Bilshirmleser