Hans-Ullrich Kuhn

HOINZI

Bilshirmleser

 Die Bosheit der Materie (1991)


Bei der Bundeswehr habe ich Kurt kennen gelernt: Kurt neigte vom Wesen her, nun, wie soll ich es ausdrücken, mehr in die depressive, negative Richtung. Bei ihm war erst mal alles schlecht und grundsätzlich konnte alles immer nur noch schlechter werden. Für diese Weltsicht hatte er sich sogar eine eigene Philosophie zugelegt: die Bosheit der Materie!

Nach Kurts tiefster Überzeugung wohnt jeglicher Materie grundsätzlich eine elementare Bosheit inne. Bei dieser Bosheit handele es sich um eine unveränderliche Naturkonstante. Interessante Theorie! Zunächst dachte ich, Kurt hätte diese Theorie entwickelt, um seine eigene permanente Ungeschicklichkeit, die sich keinesfalls wegdiskutieren ließ, zu entschuldigen. So stößt sich Kurt, er ist mit 1,90 m nicht eben klein, in einem Restaurant, wenn er vom Tisch aufsteht, grundsätzlich seinen Kopf an der über dem Tisch hängenden Lampe an. Ich bin auch nicht klein und ich habe mir den Kopf auch schon an Tischlampen, an niedrigen Türstöcken usw. angestoßen. Aber irgendwann habe ich mir das mal gemerkt und verinnerlicht und bin seitdem vorsichtig. Nicht so Kurt. Restaurant, vom Tisch aufstehen: Peng! Das war einfach so. Aber trotz dieser grundlegenden Ungeschicklichkeit Kurts bin ich im Laufe der Zeit zu der Erkenntnis gekommen, dass – zumindest im Hinblick auf Kurt – die Annahme, dass es die von ihm behauptete Bosheit der Materie tatsächlich gibt, nicht völlig in Abrede gestellt werden sollte.

Ein allgemeines Beispiel für die Bosheit der Materie ist das vielzitierte Marmeladenbrot, das immer mit der Marmeladenseite nach unten auf den Fußboden fällt. Hier ist die Bosheit der Materie noch harmlos, denn sie trifft jeden gleichermaßen, es gibt keine gezielten Attacken. Bei Kurt ist das anders, da richtet sich die Bosheit gezielt gegen ihn:

Kurt steht am Herd an der Pfanne, das Öl ist heiß, Kurt legt ein Stück Fleisch in die Pfanne, das Öl spritzt – und zwar nicht nur in sein Gesicht, was schlimm genug wäre, sondern direkt in seine Augen! Ok, das liegt natürlich in erster Linie an seiner Ungeschicklichkeit. Jeder Mensch weiß, dass Öl spritzt, wenn es mit kaltem Fleisch in Berührung kommt, schon klar. Aber muss es Kurt unbedingt direkt in die Augen spritzen?

Während einer feucht-fröhlichen Feier geht Kurt auf die Toilette. Plötzlich ein dumpfer Schlag und ein Schrei…. Wir schauen nach und sehen …. Kurt, wie er mit dem Oberkörper über der Badewanne hängt und mit heißem Wasser aus dem Wasserhahn übergossen wird. Er hatte das Gleichgewicht verloren, versucht, sich an der Badewannengarnitur abzufangen, hat dabei die komplette Garnitur abgerissen (hier sollte ich vielleicht erwähnen, dass Kurt zu dieser Zeit ein Kampfgewicht von ca. 120 kg hatte), ist dabei mit dem Oberkörper in die Wanne gefallen und hat dabei eine so unglückliche Position eingenommen, dass ihn genau der Heißwasserstrahl erwischt hat. Ok, das war natürlich auch wieder seine Ungeschicklichkeit. Er war nicht mehr ganz nüchtern, hat nicht aufgepasst und ist gestolpert. Aber muss er ausgerechnet so liegen, dass ihn das heiße Wasser erwischt?

Kurt möchte am Freitagabend, nach Bundeswehrdienstschluss, mit dem Zug von Ingolstadt nach Aschaffenburg fahren. Hierzu muss er in Würzburg umsteigen. Er verschläft und verpasst Würzburg. Kann ja mal passieren, kein Thema. Aber: Der nächste Halt war Fulda. Kurt steigt aus, sucht einen Zug zurück nach Würzburg und muss feststellen: heute nicht mehr!

Silvester, Mitternacht. Wir gehen alle nach draußen, um das Silvesterfeuerwerk zu bewundern. Vor dem Haus gibt es einen gepflasterten Weg, der in regelmäßigen Abständen von kleinen Laternen, die etwa 1,30 m hoch sind, gesäumt wird. Es hat Minustemperaturen, auf dem Gehweg haben sich Eisplatten gebildet. Kurt ist auf dem Weg nach vorne gelaufen. Wir schauen in den Himmel und bewundern das Feuerwerk. Plötzlich fällt uns auf, dass Kurt so merkwürdig zuckt. Und warum hat er einen Laternenpfahl in der Hand? Es stellte sich heraus, dass Kurt auf dem glatten Gehweg ausgerutscht ist. Bei seinem Versuch, sich irgendwo festzuhalten, hat er den Laternenpfahl in die Hand bekommen, dieser Pfahl konnte seinem Gewicht (siehe oben) nicht standhalten und beim Herausreißen kam es zu einem Kurzschluss, der den Pfahl unter Strom setzte! Auch hier wieder: Natürlich war Kurt wieder mal ungeschickt, hätte er aufgepasst, wäre er nicht ausgerutscht. Aber: Bei jedem anderen wäre beim Herausreißen des Pfahls die Stromverkabelung abgerissen, bei Kurt blieb sie dran.

Wir haben zusammen mit Kurt und seiner Freundin Urlaub in Costa Rica gemacht: Eines Abends bummeln wir durch San José. Wir laufen auf einem Gehsteig, Kurt und ich vorneweg, Ute und Kurts Freundin hinter uns. Wir laufen und reden. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ist mein Kurt verschwunden. Wirklich, ganz plötzlich. Wie bei einem Zaubertrick. Des Rätsels Lösung: nI San José kommt es oftmals zu sturzbachartigen Regenfällen, die in minutenschnelle ganze Straßen unter Wasser setzen und überschwemmen. Um diese Wassermassen so schnell wie möglich in die Kanalisation ableiten zu können, gibt es an der Schnittstelle vom Gehsteig zur Straße in regelmäßigen Abständen Regenwasserschächte, die, eingedenk der abzuleitenden Wassermassen, nicht eben klein dimensioniert sind. Sie sind quadratisch und haben eine Kantenlänge von 50 cm und eine Tiefe von 130 (!) cm. Abgedeckt sind sie, wie bei uns in Deutschland, mit Abdeckgittern. Normalerweise! Nun, auf unserem Weg lag ein Schacht, bei dem – aus welchem Grund auch immer – das Abdeckgitter gefehlt hat. Und mein Kurt hat den Schacht zielstrebig getroffen. 

Ein Umstand, der uns regelmäßig dazu veranlasste, entsprechende Wetten abzuschließen, war Kurts überaus glückliches Händchen bei der Essenauswahl in Restaurants. Sie hätten praktisch grundsätzlich Ihr gesamtes Vermögen darauf setzen können, dass es genau das Essen, das Kurt auf der Speisenkarte für sich ausgewählt war, nicht gab! Das ging so weit, dass er sogar einmal in einem Wienerwald (ja, die gab es damals noch) in Österreich, in dem wir bei einer Urlaubsrückfahrt von Jugoslawien (ja, auch das gab es damals noch) Rast machten, bei der Bestellung eines halben Hähnchens hören musste: „Tut mir sehr, sehr leid, aber die Hähnchen sind im Moment aus.“ Gut, es war mitten in der Nacht, ca. 2.30 Uhr, da können schon mal die Hähnchen ausgehen. Aber trotzdem: ohne Worte. 

Nun war Kurt zwar ungeschickt, aber nicht dumm. So hat er sich eine absolut geniale Ausweichstrategie ausgedacht. Diese Strategie führte zwar dazu, dass er in der Auswahl der zur Verfügung stehenden Gerichte etwas eingeschränkt wurde, war dafür aber absolut narrensicher (dachte er zumindest!): Er wartete nämlich einfach ab, bis wir anderen unsere Essen bestellt hatten, wählte sich dann aus unseren Bestellungen ein Essen aus und sagte zu der Bedienung: „Das hätte ich auch gerne.“ Gell, narrensicher? Doch was war die Antwort der Bedienung: „Oh, das tut mir aber leid, das war eben die letzte Portion.“

Gegenprobe:

1989 fuhren Ute und ich sowie Kurt und Freundin mit unserem Auto durch Österreich, Jugoslawien und Griechenland in die Türkei (siehe auch das Kapitel „Şanzıman“). Während dieser Fahrt hatten wir eine Unterkunft irgendwo in der absoluten Wallachei in Griechenland, hunderte Kilometer von irgendeinem Meer entfernt in einer gottverlassenen Gegend. Ich wollte mir einen Jux mit Kurt machen und sagte zu ihm beim Ausladen des Gepäcks: „Wenn wir heute Abend im Restaurant sind, bestell ich mir gegrillte Sardinen.“ Wir sitzen abends im Restaurant, ich sage zur Bedienung (wobei ich mir natürlich vorher schon ein Essen aus der Speisekarte rausgeguckt hatte, war ja völlig klar, dass sie hier alles haben, nur keinen Meeresfisch): „Haben Sie zufällig gegrillte Sardinen?“Die Bedienung strahlt mich an: „Sie haben Glück, gerade heute früh haben wir eine frische Lieferung erhalten.“

Nun, was denken Sie: Kann es eventuell doch sein, dass Kurts Theorie – zumindest in Bezug auf ihn selbst - nicht völlig aus der Luft gegriffen ist?